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Wenn Weihnachten das Fest
der Liebe ist, was ist dann Ostern?
Die Menschlichkeit wird nicht enden, solange
wir an die Möglichkeit des Aufbruchs und des Friedens glauben.
Wie kann ein Mensch seinen Weg
inmitten einer Welt der Lüge finden, in Systemen von Gewalt,
Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch? Wie behält man seinen Mut trotz
des Zynismus der Mächtigen? Wie bewahrt man seine Liebe zu den
Menschen angesichts der Verführbarkeit und Manipulation der Massen,
angesichts von unerträglicher Brutalität, beliebiger Grausamkeit,
Naturzerstörung und Hass? Woher nimmt man seine Zuversicht
angesichts des sicheren Todesurteils, ausgesprochen von Autoritäten,
machthungrigen Psychopathen und Polit-Puppenspielern?
Jesus beantwortete solche Fragen immer,
indem er die Menschen aus ihrer Unruhe, Unsicherheit und Ablenkung
befreite, ihnen einen Standpunkt und neuen Blickwinkel außerhalb der
Angst ermöglichte.
„Kommt, all Ihr Erschöpften und
Überlasteten, zur Ruhe lass ich Euch kommen.“ (Mt 11,28)
„Fürchtet Euch nicht vor denen, die den
Leib töten wollen, die Seele aber nicht zu töten vermögen.“ (Mt
10,28)
Solange die Menschen wie in einem engen
Kerker in der Angst gefangen bleiben, bereiten sie sich nur
gegenseitig die Hölle auf Erden: sie vermehren die Angst, statt sie
zu lindern.
Wer aber erst einmal verstanden und
erfahren hat, woraus er doch im Wesentlichen lebt, der vermag die
Ketten und Mauern all der ängstlichen und ängstigenden
Rücksichtnahmen und Fehlwahrnehmungen zu sprengen und sich zu
befreien, der vermag das Haupt zu heben und die Augen zu öffnen, die
Arme ausbreiten und das Leben annehmen: aus einem Gefühl des
Vertrauens und der Vertrautheit wird eine Menschlichkeit möglich,
die zwar jeder erträumt und erwartet, die er aber doch zugleich
nicht zu sehen vermag oder für unmöglich erklärt.
Die Ostergeschichte ist eine Geschichte
von extremer Verzweiflung und Hoffnung, von sich winden in Schmerzen
und der Überwindung der Angst, von Einschüchterung durch die
angeblich Mächtigen und der Befreiung von Unfreiheit.
Das Kreuz ist eines der anzuklagenden und
schlimmsten Folterinstrumente: es quält und tötet den Menschen nicht
nur, sondern entblößt ihn, verspottet ihn und will ihn als
abschreckendes Beispiel ausstellen.
Was sich am Karfreitag ereignet hat, ist
unmenschlich, durch nichts gerechtfertigt, damals nicht und jetzt
nicht und nie wieder. Und doch fand und findet es immer wieder
statt.
Und hier liegt das Rätsel der Geschichte,
dass es zu lösen gilt, und das sich uns immer wieder stellt. Gott
kann das nicht gewollt haben, jedenfalls nicht der liebende,
väterliche Gott, den Jesus uns zugesichert hat; und doch geschieht
es. Und Jesus weiß es, er wählt diesen Weg, er will nicht, dass es
geschieht, aber er weiß: es ist unvermeidlich.
Warum muss der Menschensohn, der Prophet,
der Messias so sterben? Und warum ist dies die Erfahrung so vieler
Propheten, so vieler Visionäre, so vieler Reformer und
Wahrheitssucher?
Wer die größten Träume und Visionen der
Seele leben will, wer immer wahrhaft vertraut auf den Gott der
Liebe, gerät offenbar unvermeidlich in den größten Widerspruch zu
den Leuten seiner Zeit?! Auf jeden Fall gerät er unvermeidlich in
den Widerspruch zu den Machthungrigen der Welt!
Jesus ist ein friedlicher Revolutionär,
der trotz aller gesellschaftlichen Drohgebärden und Machtspiele, die
Spielregeln nicht anerkennt, die den Menschen versklaven,
verängstigen, unfrei machen. Er will die Menschen von den Ketten aus
Angst und Gewalt befreien, damit der Mensch das Leben wieder aus
sich heraus versteht und die ursprünglichen, die wahrhaft göttlichen
Regeln entdeckt, die er tief in sich stets gespürt und
sehnsuchtsvoll bewahrt hat, an die er den Glauben und das Vertrauen
aber verloren hat angesichts der Perversion der Religion, angesichts
der gesellschaftlichen Doppelmoral, der religiösen und kommerziellen
Verführer, der brutalen und angstnutzenden Eliten.
Jesus spricht: „Ihr habt gehört, dass …
Ich aber sage Euch ...“
Kaum in Jerusalem angekommen, wirft er die
aus dem Tempel, die die heilige Stätte für Kommerz und persönliches
Gewinnstreben missbrauchen.
Das Passahfest feiert er quasi als
Ausgegrenzter mit Ausgestoßener. Er definiert es neu, frei von der
priesterlichen Bevormundung. Unbeirrt davon, dass er als „Irrlehrer“
und „Volksverführer“ von denen beschimpft wird, die ihre Macht
daraus beziehen, dass sie sich in alles einmischen, sich zwischen
Gott und den Menschen drängen und ihn durch ein System aus Moral und
Schuld unterdrücken. Eine neue Sinndeutung entwickelt Jesus für das
Fest, bei dem bis dahin ein Tier, ein „Sündenbock“ als Symbol
geschlachtet wurde, um ihm die Schuld eines ganzen Volkes
aufzuerlegen und auszutreiben.
Ist es aber gerecht, einen Unschuldigen
herzunehmen und zum Sündenbock, zum Opfer für all die anderen zu
machen, die wirklich die Verantwortung tragen und gerechterweise die
Strafe verdienen? So entstünde doch ein archaisches Götterbild eines
launigen, parteiischen, blutrünstigen richtenden Patriarchen. Doch
eben dieses wurde durch das ganze Agieren von Jesus und seine Reden
überwunden.
Das blutrünstige Ritual der Schuld
transformiert er zu einem Element erneuerten Lebens (und bereitet so
quasi die Auferstehung vor). So wie die Natur, die ganze Welt sich
ständig erneuert, ohne Schuld, ohne Opfer.
Mögen die Hohepriester ihn auch anklagen
und ermorden, gerade dann gilt es umso mehr zu begreifen, dass es
ein Leben gibt, das man nicht töten kann. Sollen doch die Henker,
die Soldaten, die Mächtigen den Tod verwalten; das Leben wird ihnen
niemals gehören! Auch wenn sie die Menschen aus Angst in Ketten
legen, auf seine Freiheit können sie nicht zugreifen. Jedes Wort
eines frei denkenden, jeder Laut aus dem Mund Jesu wird größer sein
als all ihre Lügen. Jeder Hauch seiner Güte ist der Anfang eines
kommenden Reiches, einer werdenden Realität, in der wir alle freie,
gesunde, glückliche Menschen im Frieden vereint sind.
Auch während seiner Verhaftung und im
Angesicht der Gewalt bleibt Jesus gewaltfrei; „Wer zum Schwert
greift, wird umkommen durch das Schwert.“
Bis in den Tod macht Jesus wahr, was er in
der Bergpredigt sagte: „Widerlegt die Gewalt nicht mit neuer Gewalt,
lasst Euch nicht ein auf das Böse, überwindet es durch die
Gewaltfreiheit des Guten.“ (Mt 5,39)
Am Karfreitag gilt es vor allem jenen zu
gedenken, die zu Opfern der Gewalt werden und wurden, insbesondere
aber auch denen davon, die gerade deshalb zu Opfern wurden, weil sie
konsequent die Gewaltfreiheit Jesu leben wollten: die Märtyrer und
Deserteure, die Pazifisten und Kriegsverweigerer. Viel zu wenig
verachten wir die Feigheit und vermeintlichen verlogenen
„Heldentaten“ der Soldaten und viel zu wenig bewundern wir den Mut
der Pazifisten und zu selten gedenken wir der Leiden der vielen
Menschen, die sich weigerten, dem Krieg zu dienen, den Zeugen
Jehovas, den Quäkern, den Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern,
die zum Beispiel in den Konzentrationslagern der Nazis starben. Sie
lehnten den unmenschlichen Zynismus ab, der das Überleben an die
Kunst zu Morden zu binden versucht. Doch ihre Wahrheit lebt und
ersteht immer wieder neu.
Wenn man es nicht begreift, auch hier und
heute nicht begreift, wird weiterhin ein Krieg übler sein als der
andere. Das Morden und Metzeln wird so perfektioniert, bis die
Drohung mit dem Untergang der Menschheit oder Teilen davon für
„unausweichlich“, „richtig“, „verantwortlich“ und absolut „nötig“
erachtet wird, um irgendeine Idee, irgendeinen Wahn, eine Lüge zu
retten.
Aber bei diesem Verlauf bleibt man kein
Mensch, denn man verliert die Menschlichkeit und zwingt sie aus den
jungen Menschen heraus, die man zu hassen und zu töten lehrt.
Selig aber sind diejenigen, die anderen
Heil bringen, die Frieden stiften, die gewaltfrei bleiben im
Angesicht der Gewalt; sie heißen Söhne und Töchter Gottes,
Menschensöhne und Menschentöchter = Menschen. (Mt 5,9)
Da, wo man versucht, den Menschen zu
isolieren, ihm das Leben durch den Tod zu nehmen, da zerreißt der
Vorhang im Tempel, der den Menschen von Gott zu trennen versuchte,
da tun sich die Gräber auf, und aus der Verzweiflung wird Hoffnung,
aus dem Mut wird Realität, aus dem Tod wird mannigfaches Leben.
Was wir mit der Auferstehung zu Ostern
feiern, ist auch die Auferstehung, die Unsterblichkeit der
Menschlichkeit. Es ist ein physikalisches Gesetz, dass nichts
verloren geht, keine Energie verschwindet. Die Natur macht es uns
dauernd vor, und jetzt im Frühling sehen und spüren wir es deutlich,
wenn wir nur hinausgehen und die Augen öffnen, um zu sehen, wie wir
die Verherrlichung der Gewalt und des Hasses in den Medien, den
Krieg und die Gewalt überwinden können.
Was der Mensch in Wahrheit ist, lässt sich
nicht töten. „Die Gewaltlosen werden das Land erben.“ (Mt 5,5)
Ostern ist also das Fest vom Mut zum Leben. Wir feiern, dass Mut die
Angst überwindet, dass das Leben stärker ist als der Tod, und dass
Handeln die Hoffnungslosigkeit besiegt.
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